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"Estlands Präsident stellt Griechenland-Hilfe infrage", Die Zeit

Der Präsident der Republik Estland, Toomas Hendrik Ilves.
© Maurizio Gambarini/dpa

10.06.2015

Interview: Jochen Bittner und Jörg Lau


Toomas Hendrik Ilves kritisiert die Haltung Griechenlands zu Russland. Warum diese zu Problemen für ein neues Rettungspaket führen kann und was er von der Nato erwartet.


ZEIT ONLINE: Herr Ilves, wie fühlt es sich an, Präsident eines Kalter-Krieg-Frontstaats im 21. Jahrhundert zu sein?

Toomas Hendrik Ilves: Nun ja, für einen Ex-Kalten-Krieger fühlt es sich an wie zu alten Zeiten! (lacht) Die Propaganda ist dieselbe, die rhetorische Härte ist dieselbe. Aber ist es nicht ein wenig seltsam, diese Frage in Deutschland gestellt zu bekommen? Denn ich denke, es fühlt sich so ähnlich an wie 1981 in Berlin.


Wie meinen Sie das?

Ich meine, dass man merkt, was Verteidigung kostet. Wir haben gerade das größte Nato-Militärmanöver der vergangenen 20 Jahre abgehalten. 14.000 Soldaten haben teilgenommen, die Hälfte von ihnen Reservisten, die aus 32 Ländern anreisten. Wir haben die Wehrpflicht beibehalten, und sie ist populär. Also: Es ist nicht so, als könnten wir uns nicht verteidigen. Aber man muss dafür natürlich auch bezahlen. Wenn sich die Nato-Staaten darauf verständigen, zwei Prozent des Bruttosozialprodukts für Verteidigung auszugeben, dann sollten sie sich auch daran halten. Wir tun es.


Die Russen nennen solche Aufrüstung und solche Manöver eine Aggression durch die Nato.

Bei dem russischen Manöver Zapad ("Westen", Anm. d. Red.), das 2013 ohne internationale Beobachtung ablief, übten 70.000 Soldaten eine Invasion der Baltenstaaten. Da sollte man eine Abwehrübung doch wohl verstehen.


Haben Sie die Sorge, dass das, was in der Ukraine passiert ist, auch in Estland passieren könnte? Eine hybride Invasion, teils militärisch, teils ideologisch?

Nein. Es wird immer wieder gesagt, dass die 350.000 Russen, die in Estland leben, sich instrumentalisieren ließen. Die Leute, die darüber spekulieren, sind Hobbystrategen. Gucken Sie sich mal die Einkommensunterschiede diesseits und jenseits der Grenze zu Russland an. Und den Grad der Freiheit hier und dort. Narva, die Grenzstadt, die immer wieder genannt wird, ist der beste Ort, um Leute zu treffen, die Russland nicht beitreten wollen. Man muss nur die Brücke ins Nachbarland überqueren, um sich billige Zigaretten oder Alkohol zu kaufen, dann merkt man, wie es dort aussieht. Niemand, der das gesehen hat, will Teil der Russischen Föderation werden.


Andererseits sind die ethnischen Russen in Estland dem russischen Propagandafernsehen ausgeliefert.

Das sind sie. Es gibt eine starke emotionale Unterstützung für Putin, auch für die Annexion der Krim. Aber wissen Sie, das ist ein Diaspora-Phänomen. Wenn man in Chicago mit Polen spricht, reden viele von denen auch sehr rechts-nationalistisch daher. Das heißt aber nicht, dass sie in Polen leben wollen.


Der Beschluss der Nato, mehr militärisches Gewicht nach Osteuropa zu verlagern, scheint Sie zu beruhigen.

Wir Balten brauchen keine Beruhigungspillen. Wir brauchen Klarheit über den Zweck der Nato, Abschreckung zu leisten. Ein potenzieller Aggressor muss wissen, dass eine Aggression eine machtvolle Antwort nach sich ziehen würde.


In Deutschland heißt es oft, der eigentliche Aggressor sei die Nato. Deren Osterweiterung nach 1990 sei rücksichtslos gegenüber Russland gewesen. Sie waren damals Außenminister. Hat die Nato Druck gemacht, Ihr Land aufzunehmen?

Machen Sie Witze? Die Nato soll uns Druck gemacht haben? Das ist so ziemlich das Dümmste, was ich mir vorstellen kann. Das Gegenteil ist wahr: Die osteuropäischen Länder haben alle laut nach der Nato gerufen. Einer der wichtigsten Gründe für die Baltenländer, möglichst schnell EU-Mitglieder zu werden, war, dass wir glaubten, dann würde auch niemand ein Veto gegen eine Nato-Bewerbung einlegen. Der Impuls, der Nato beizutreten, kam allein von uns – und es war ziemlich schwierig.


Man kann der Nato aber immer noch vorwerfen, dass sie Sie überhaupt reingelassen hat.

Mag sein. Aber die Entscheidung war richtig. Stellen wir uns mal vor, was gerade los wäre, wenn wir keine Nato-Mitglieder wären. Dann würden wir Osteuropäer wirklich an die Decke gehen. Aber das tun wir nicht.


Sollte der Westen die Sanktionen gegen Russland lockern, falls die Minsk-Vereinbarungen befolgt werden?

Im Minsk-Abkommen geht es nur um die Ostukraine. Die Sanktionen wurden wegen der Annexion der Krim beschlossen. Aber es gibt da eine andere Sache: In der EU droht womöglich eine Blockade der Sanktionen durch Griechenland. Für ein Land wie Estland ist die Griechenland-Krise noch problematischer als für Deutschland. Zwei Mal haben wir Hilfskredite beschlossen. Dabei liegt das estnische Durchschnittseinkommen zehn Prozent unter dem griechischen Mindestlohn. Und dann gibt es kurz nach dem Regierungsantritt von Syriza den etwas unbeholfenen Versuch, die damaligen Brüsseler Ratsschlussfolgerungen gegenüber Russland abzuändern. Darüber mache ich mir Sorgen.


Wollen Sie sagen, dass Estland einem dritten Hilfspaket für Griechenland nicht zustimmen wird?

Was ich sage, ist, dass es hier gewisse Schwierigkeiten gibt. Und wenn die Hilfe im Parlament ratifiziert werden muss, könnten die zu einem Problem werden.


Artikkel ajalehe Die Zeit veebilehel.