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"«Die Russen legen sich nicht mit der Nato an»", Neue Zürcher Zeitung

Präsident Ilves spricht lieber über die Zukunft als über die Vergangenheit.
© Simon Tanner / NZZ

11.12.2015

von Ivo Mijnssen


Toomas Hendrik Ilves ist für klare Positionen bekannt. Estlands Präsident glaubt, dass nur Wirrköpfe eine Beziehung zwischen der Krim und Syrien herstellen und sieht die Demokratie als heiligen Gral.


Er fällt auf. Seine Grösse, sein Auftreten und sein Markenzeichen, die bunte Fliege, sorgen dafür, dass Toomas Hendrik Ilves auch aus einer Schar Politiker herausragt. Vor allem aber vertritt er auffallend klare politische Positionen, die der parteipolitisch unabhängige Staatspräsident Estlands ungeschminkt artikuliert: Sein Einstehen für ein vereintes Europa, eine liberale Gesellschaft und sein bedingungsloses Vertrauen in den technologischen Fortschritt lassen ihn zuweilen fast anachronistisch wirken in einem Europa, das von Zukunftsängsten und Selbstzweifeln geplagt wird.


Zurück in die Zukunft


Im Interview mit der NZZ, das Ilves im Vorfeld einer Winston Churchill gewidmeten Rede am Europa-Institut der Universität Zürich gibt, leitet er den eigenen Wertekanon auch aus seiner Familiengeschichte ab. Die Eltern flohen 1944 aus Estland, als die Rote Armee das von der deutschen Wehrmacht besetzte Land zurückeroberte. Ilves kam 1953 in Schweden zur Welt und wuchs in den USA auf. «Meine Familiengeschichte führte dazu, dass die liberale Demokratie für mich stärker ein heiliger Gral ist als für andere», meint Ilves. Man dürfe sich sein Handeln nicht von der eigenen Geschichte vorschreiben lassen. «Sich vorwärtszubewegen, aber ständig zurückzuschauen, erscheint mir albern.» Lieber als Geschichtsdebatten sind ihm deshalb Diskussionsrunden und Vorträge über E-Government, digitale Innovation und die Freiheit des Internets. Er betont, dass Estland global führend ist.

Dennoch lässt sich die Geschichte nicht einfach beiseiteschieben. In den Ländern des ehemaligen sozialistischen Blocks wurden traumatische historische Erfahrungen in das Korsett einer von Moskau verordneten, idealisierten Erzählung gepresst. Sie handelte einzig von der Befreiung Osteuropas durch die Rote Armee. Gerade das Baltikum verlor aber auch einen grossen Teil seiner Bevölkerung durch Erschiessungen und kommunistische Säuberungen. Ein Land wie Estland, in dem eine bedeutende Zahl von Bürgern mit den Nationalsozialisten oder den Kommunisten zusammengearbeitet hat (wenn auch oft nicht aus freien Stücken), ist auch heute noch geprägt von den Bruchlinien der Vergangenheit. Eine Aufarbeitung etwa der Judenvernichtung blieb grösstenteils aus, stattdessen gefallen sich viele Esten in einer unkritischen Opferrolle. Die ruppige russische Aussenpolitik vereinfacht diese undifferenzierte Haltung.

Auch aus diesem Grund verfolgt Estland zusammen mit Polen innerhalb der EU die härteste Linie gegenüber Russland, die auch Ilves unterstützt. Besonders seit den Anschlägen von Paris gibt es aber immer mehr Stimmen, die eine Art Deal fordern: Kooperation in Syrien gegen eine Aufhebung der Sanktionen. Allerdings, wirft Ilves ein, kämpften die Russen in Syrien nicht primär gegen den IS, sondern für Asad. «Das hat nun einige Wirrköpfe dazu gebracht, zu sagen: ‹Oh, da sie Syrien bombardieren, sind sie offensichtlich auf unserer Seite!›» Für Ilves wäre die Verbindung der beiden Themen fatal. «Die Russen wollen, dass wir den ‹Anschluss› der Krim vergessen. Solange die Minsker Verträge aber nicht vollständig umgesetzt sind und die Krim annektiert bleibt, sehe ich keine Möglichkeit, die Sanktionen aufzuheben.»


Labil-stabile Beziehungen


Ilves stellt fest, dass sich die Russen weiterhin provokativ verhalten, was er an zahlreichen Verletzungen des estnischen Luftraums, erhöhter Aktivität von russischen U-Booten vor der Küste und Drohungen gegenüber baltischen und skandinavischen Ländern festmacht. Dennoch hält er Warnungen vor einem militärischen Angriff Russlands auf das Baltikum, auch in sogenannt «hybrider» Form, für übertrieben. «Wir sind Nato-Mitglied, und die Russen werden sich nicht mit der Nato anlegen», ist er überzeugt. Der estnische Präsident glaubt aber nicht, dass sich die angespannten Beziehungen zum grossen Nachbarn rasch verbessern. Immerhin stehen die beiden Länder kurz davor, nach über zwei Jahrzehnten endlich ein Grenzabkommen zu ratifizieren. Gleichzeitig will Estland an der Grenze einen Zaun bauen und sie mit Drohnen und Sensoren besser überwachen.

In den Medien wird oft geschrieben, die ethnischen Russen in der Grenzregion seien ein Sicherheitsrisiko für Estland. Ilves redet sich ins Feuer, wenn das Thema auf diese mutmassliche Bedrohung durch eine russische fünfte Kolonne kommt: «Es ist dumm, wenn Journalisten denken, dass die Russen in Estland eine Quelle der Instabilität sind. Schauen Sie sich doch mal die Unterschiede bei den Löhnen und der Lebensqualität an – glauben Sie wirklich, dass irgendjemand auf die russische Seite der Grenze ziehen will, wo er keine Perspektiven hat?»

Ganz so sicher wie Ilves scheinen sich allerdings nicht alle Esten zu sein. Das belegt etwa der vor wenigen Monaten lancierte öffentlichrechtliche Fernsehsender für russischsprachige Esten, mit dem man die russische Propaganda kontern will. Und auch wenn sich die Lage der russischen Minderheit, die gut einen Viertel der Bevölkerung ausmacht, etwas gebessert hat – ihre soziale Stellung bleibt benachteiligt. Zudem sind immer noch fast sieben Prozent der estnischen Gesamtbevölkerung staatenlos, vorwiegend ethnische Russen . Dazu tragen die relativ hohen administrativen und sprachlichen Hürden zur Einbürgerung bei, aber auch die Tatsache, das Staatenlose von Estland aus frei in die EU reisen und dort arbeiten können.

Toomas Hendrik Ilves bestreitet nicht, dass hier Handlungsbedarf besteht, und befürwortet Erleichterungen, wie etwa einen Gesetzesentwurf von 2014, der zumindest ethnische Russen der zweiten Generation automatisch einbürgern will. Er glaubt aber, dass für die junge Generation in Estland nationale Kategorien nicht mehr wichtig sind. «Was die estnische Gesellschaft polarisiert, sind Einstellungen gegenüber Homosexuellen und Fremden. Hier sind die ethnischen Esten deutlich liberaler als die ethnischen Russen.»


Über das Tagesgeschäft hinaus


Ilves selbst steht für ein offenes Gesellschaftsmodell und betont, dass Estland auch in der Flüchtlingskrise nie eine Abwehrhaltung vertrat. Vielmehr könne diese Frage nur europäisch gelöst werden, mit einer Quotenregelung und einer gemeinsamen Stärkung des Grenzschutzes: «Der Versuch, sich zu isolieren und die Grenzen zu schliessen, ist zum Scheitern verurteilt», ist Ilves überzeugt. Estland habe der Frontex umgerechnet auf die Bevölkerung die höchste Anzahl von Grenzbeamten zur Verfügung gestellt. Der Frage, ob das Land auch mehr als die 400 bis 500 Flüchtlinge aufnehmen würde, zu denen es sich verpflichtet hat, weicht er allerdings aus. «Es geht in dieser Frage nicht nur darum, wie viele Flüchtlinge ein Land aufnimmt, sondern auch, wie es sich darüber hinaus an einer Lösung beteiligt.»

Trotzdem sind in Estland die Debatten über die Flüchtlinge schärfer geworden. Im September gab es auch einen Brandanschlag gegen das einzige Flüchtlingsheim des Landes. Ilves sagt immerhin, dass er sich mit seiner liberalen Haltung in der Flüchtlingsfrage nicht nur beliebt macht. Schlimm findet er das nicht: «Für den Präsidenten ist es einfacher, eine moralische Position zu vertreten, als für die Regierung.» Er habe zwar weniger Macht, dafür könne er auch etwas über das politische Tagesgeschäft hinausschauen.


Original article on the Neue Zürcher Zeitung webpage.