- Reset + PDFPrint

"Estlands Präsident warnt vor Lockerung der Russland-Sanktionen", Der Tagesspiegel

Estlands Präsident Toomas Hendrik Ilves
© Davids/Darmer

06.11.2014

von Christoph von Marschall und Claudia von Salzen


Der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves betont, Russland habe mit der Annexion der Krim Europas Sicherheitsordnung zerstört. An die EU appelliert er, nicht "für ein paar Euro" die Sanktionen zu lockern.


Alle reden über die Ukraine, aber auch Ihr Land hat seine Probleme mit dem Nachbarn Russland. Ein russisches Militärflugzeug drang in den estnischen Luftraum ein, ein estnischer Sicherheitsoffizier wurde an der Grenze entführt und sitzt nun in einem Moskauer Gefängnis. Fühlt sich Estland von Russland bedroht?

Nein, dafür gibt es keinen Grund. Wir sind in der EU und in der Nato. Anders als fast alle anderen EU-Staaten geben wir zwei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aus. Ich betrachte das als unsere Versicherungspolice.

Eine unmittelbare Bedrohung sehe ich nicht, aber ich bin besorgt über die Zukunft der europäischen Sicherheitsarchitektur.


Wie zufrieden sind Sie mit dem, was EU und Nato tun?

Die Beschlüsse des Nato-Gipfels in Wales sind sehr wichtig für uns. Es ist nicht ohne Ironie, dass dort die Nato-Russland-Grundakte von 1997 endlich umgesetzt wurde. Bisher wurden niemals Truppen in Osteuropa stationiert, nicht einmal temporär. Ich frage meine Gesprächspartner auch in Deutschland immer gern, ob sie die Nato-Russland-Grundakte überhaupt gelesen haben. Alle sagen, dort stehe, man dürfe keine Truppen dauerhaft in Osteuropa stationieren. Aber das ist nicht der entscheidende Teil. Es heißt darin, dass in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld keine dauerhaften Basen und Strukturen errichtet werden dürfen. Doch das Sicherheitsumfeld von 1997 hat nichts mit der heutigen Situation zu tun.


In der Ukraine will Präsident Poroschenko möglicherweise mit neuen Militäraktionen den Osten des Landes zurückerobern. Wäre das wirklich ein kluger Schritt?

Sein Land zu verteidigen, ist sein volles Recht. Im Jahr 1980 hieß es im Westen: Ist es klug, dass Lech Walesa in Danzig zum Streik aufruft? Könnte das nicht eine Reaktion der Sowjetunion auslösen? Ich denke nicht, dass wir in der Position sind, über ein Land zu urteilen, das einen Einmarsch erlebt hat.


Hat der Westen angemessen auf die russische Annexion der Krim reagiert?

Nein. Russland hat damit die europäische Sicherheitsordnung zerstört. Aber viele Staaten haben den Ernst der Situation überhaupt nicht erkannt. Stattdessen gab es einen kleinen Streit darüber, ob man diese oder jene Person auf die Sanktionsliste setzt. Sobald wir akzeptieren, dass Grenzen aufgrund von ethnischen Kriterien verändert werden, sind wir wieder beim Sudetenland 1938. Wir stecken in viel größeren Schwierigkeiten, als wir zugeben. Wenn jemand sagt, wir sollten die Sanktionen lockern, weil Putin einen etwas weniger aggressiven Ton anschlägt, zeigt das eine völlige Unkenntnis der Situation. Wir dürfen nicht für ein paar Euro die Grundlage der europäischen Friedensordnung zerstören, die seit 1945 Bestand hatte.


Was ist denn das wahrscheinlichste Szenario für die kommenden Monate?

Es gibt die starke Tendenz einiger Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, Chamberlain zu spielen und die Sanktionen zu lockern. Doch in den vergangenen anderthalb Wochen haben wir größere Bewegungen von Militärausrüstung und Truppen über die Grenze in die Ostukraine gesehen. Das ist besorgniserregend.


Heißt das nicht, dass wir es mit einer Krise zu tun haben, die Monate, Jahre ...

... Jahrzehnte ...


... der Instabilität bringen wird?

Eine 70 Jahre alte Sicherheitsarchitektur ist zerstört worden. Meine Sorge ist, dass das von Anfang an die Absicht war.


Die neue EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hat an ihrem ersten Tag im Amt die Effektivität der Sanktionen gegen Russland infrage gestellt. Ist das ein erster Schritt zu einer Neuausrichtung der europäischen Sanktionspolitik?

Nein. Ich denke nicht, dass Mogherinis Erfahrung mit Russland hinreichend ist.


Die Frage der Effektivität der Sanktionen stellt sich doch wirklich.

Alles deutet darauf hin, dass gerade die Finanzsanktionen im zweiten Halbjahr 2015 richtig Wirkung zeigen werden.


Sie sind also überzeugt, dass Sanktionen dazu führen könnten, dass Russland die Einmischung in der Ukraine stoppt – und vielleicht sogar die Krim zurückgibt?

Wenn wir sagen würden, wir nehmen die Sanktionen zurück, und Russland behält die Krim, hätten wir einer Grenzänderung durch militärische Gewalt zugestimmt. Was wäre dann der nächste Schritt? Wenn wir nicht an unseren Prinzipien festhalten, könnte dies das Ende Europas sein.


Toomas Hendrik Ilves (60) ist seit 2006 Estlands Staatspräsident. Zuvor war der studierte Psychologe EU-Abgeordneter und Außenminister seines Landes.


Original article on Der Tagesspiegel webpage.