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"«Der Neutralitätsbegriff ist heute für mich so leer wie noch nie»", SonntagsZeitung

10.08.2014

Barnaby Skinner


Estlands Präsident Toomas Hendrik Ilves wirft der Schweiz vor, sich Vorteile verschaffen zu wollen. Und als OSZE-Vorsitzende müsse sie die Sicherheitspolitik neu diskutieren


In der Ostukraine ist noch immer von Krise oder Konflikt die Rede, nicht von Krieg. Wie weit weg sind wir in von einem Krieg?

Es ist klar, dass russische Truppen und russisches Kriegsmaterial bereits in der Ostukraine im Einsatz sind. Die Russen finden zwar alle möglichen Entschuldigungen dafür, den Ereignissen einen anderen Namen zu geben. Es ist von Hybridkrieg die Rede, was auch immer das sein soll. Ich nehme eine «Clausewitzian position» ein: In der Ukraine werden politische Ziele mit kriegerischen Mitteln erreicht.


Könnte sich der Konflikt auf andere osteuropäische Staaten ausweiten?

Ich höre viel Kriegsgeschrei. Sowohl in russischen als auch in westlichen Medien. Ein hoher russischer Offizieller liess sich anonym kürzlich gar damit zitieren, dass die Auswirkungen der von Europa und Russland verhängten Wirtschaftssanktionen egal seien: Der Krieg komme ohnehin. Das ist beängstigend. Die aktuelle Situation weckt Erinnerungen an das Kriegsgeschrei vor 100 Jahren vor dem Ausbruch des 1.  Weltkriegs. Vor dem Hintergrund des aktuellen irrationalen Kriegsfiebers bin ich deshalb pessimistisch, was die kommenden Monate angeht.


Wo lauern Gefahren für die baltischen Staaten, insbesondere für Estland?

Die simple journalistische Reaktion ist: Und als Nächstes kommt Estland. Wir haben eine grosse russische Minderheit hier. Aber ich glaube nicht, dass wir nun ein Kandidat für Entwicklungen sind, wie wir sie in der Ukraine sehen. Einfach deshalb, weil es fundamentale Unterschiede zwischen diesen Ländern gibt. Der Durchschnittslohn eines Minenarbeiters im ukrainischen Donbass beträgt 200  Euro pro Monat. Estnische Mineure erhalten im Schnitt 2000  Euro. Hinzu kommt die Nato-Mitgliedschaft von Estland. Wir sehen derzeit zwar, wie gut die russische Medienpropaganda im Fall der Ukraine funktioniert. Doch Russland wäre dumm, in einem Nato-Staat einen Aufstand ähnlich zu unterstützen wie derzeit in der Ukraine. In Artikel 5 des Nordatlantikvertrags steht klar und deutlich, dass der militärische Angriff auf ein Mitglied als Angriff auf alle Mitglieder verstanden wird.


In der estnischen Bevölkerung macht sich also niemand Sorgen über die Entwicklungen in der Ukraine?

Natürlich nehmen auch wir wahr, wenn russische Politiker öffentlich grossrussische Fantasien aufleben lassen und damit im Grunde die Annektierung von Finnland oder Polen heraufbeschwören. Ich persönlich nehme solche Fantasien nicht ernst.


Was steht für Estland auf dem Spiel?

Nicht nur Estland, sondern ganz Europa muss sich grundsätzlich über ihre Sicherheitsvereinbarungen Sorgen machen. Was sind heute die Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975 oder die Pariser Charta von 1990 noch wert? Alles, worauf sich die internationale Gemeinschaft zum Schutz staatlicher Souveränität in Europa seit 1945 geeinigt hat, 70 Jahre mühsame Sicherheitspolitik, wird derzeit zum Fenster hinausgeworfen. Gerade die Schweiz muss sich darüber Gedanken machen, präsidiert sie doch derzeit die OSZE.


Die USA und die EU haben ihre Sanktionen gegen Russland verschärft. Die Schweiz hat die EU-Sanktionen nicht übernommen, diese Woche aber ihre Massnahmen ausgeweitet. Schweizer Finanzgesellschaften ist es verboten, mit gewissen russischen Unternehmen und Personen neue Geschäfts- beziehungen einzugehen.

Die Reaktionen auf die angekündigten Sanktionen durch EU-Staaten waren für den Ruf der Schweiz in Europa nicht gerade förderlich.


Sie haben kein Verständnis für die abgeschwächten Massnahmen der Schweiz?

Seit der Einwanderungsinitiative ist man in Osteuropa nicht sehr gut auf die Schweiz zu sprechen. Der Ausgang der Abstimmung war abscheulich, um es unverblümt zu sagen. Jeder souveräne Staat muss für sich entscheiden, wie er mit einer bestimmten weltpolitischen Situation umgeht. Aber die Schweiz muss mit der Kritik leben, dass sie nur deshalb ihre eigenen Sanktionen erlassen hat, um sich im Bankensektor Vorteile zu verschaffen.


Die Schweizer Regierung sagt, sie wolle als neutraler Staat eine potenzielle Vermittlerrolle im Ukraine-Konflikt nicht gefährden.

Natürlich braucht es Vermittlungen, aber keine neutralen Vermittler. Ich bin mir auch nicht sicher, was Neutralität im andauernden Konflikt in der Ukraine überhaupt bedeutet. Schweden und Irland sagen, sie seien neutral, sind aber in der EU und unterstützen damit die Sanktionen gegen Russland. Finnland hingegen hat seit dem EU-Beitritt seinen neutralen Status aufgeben. Der Neutralitätsbegriff ist heute für mich so leer wie noch nie.


Hat sich das direkte Verhältnis zwischen Estland und Russland seit dem Ausbruch des Ukraine-Konflikts verändert?

Bis diese Woche nicht spürbar, nein.


Als Sanktion gegen die EU hat Russland einen Importstopp für ausländische Lebensmittel verhängt. Damit kann auch Estland keine Nahrungsmittel mehr nach Russland exportieren. Wird man daran nicht zu beissen haben?

Unter den EU-Staaten sind wir als Handelspartner von Russland an vierter Stelle gelistet. Aber es ist schwierig zu sagen, wie sich der Exportstopp für Früchte, Gemüse und Milchprodukte tatsächlich auswirken wird.


Gehen Sie davon aus, dass sich die Rolle der Nato durch die Ereignisse in der Ukraine verändern wird?

Die Nato muss sich viel mehr auf ihre Kernaufgabe konzentrieren. Die kommende Jahreskonferenz in Wales hätte sich ursprünglich auf Afghanistan fokussieren sollen. Nun aber geht es darum, die politische Stabilität Europas sicherzustellen. Estland ist seit zehn Jahren Nato-Mitglied. In dieser Zeit galt, dass eine Nato-Präsenz in den osteuropäischen Staaten unnötig sei. Wir haben bereits letztes Jahr eine riesige russische Operation an der polnischen Grenze beobachtet, in der die Invasion Polens und der baltischen Staaten durchexerziert wurde. Das hat vielen zu denken gegeben.


Ist das auch der Hintergrund der grossen Nato-Übung mit 6000 Soldaten, die dieses Jahr in Estland durchgeführt wurde?

Das ist doch nicht gross im Vergleich zu den 70 000 Soldaten der Russen. Im Übrigen war das mehr eine estnische als eine Nato-Übung. Da haben wir übrigens etwas mit der Schweiz gemeinsam: Auch wir kennen eine Militärdienstpflicht.



Sohn von Kriegsflüchtlingen

Toomas Hendrik Ilves wurde 1953 in Stockholm geboren. Seine Eltern flohen 1944, als die Russen Estland besetzten. Aufgewachsen ist er in New Jersey (USA). Als Student engagierte er sich gegen den Vietnam-Krieg und demonstrierte gegen Richard Nixon. Als in den 80er-Jahren Ronald Reagan den Propagandasender Radio Free Europe aufbaute, war er für Estland zuständig. Weil er der einzige Bewerber war, der Estnisch sprach, bekam er den Job. 1988 reiste er während der Sowjetherrschaft in das Land seiner Eltern und schloss sich der Unabhängigkeitsbewegung an. Weil Ilves gut Englisch sprach und mit den Amerikanern umgehen konnte, wurde er 1993 der erste US-Botschafter Estlands. Später war er Aussenminister. 2006 wurde er zum Präsidenten gewählt.

Ilves ist sehr aktiv in den neuen Medien. Auf Twitter machte er sich schon mal über Wladimir Putin lustig. Das Interview wurde über Skype geführt, das in Estland erfunden wurde. Das Land hat die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft Europas. 30 Prozent der Einwohner haben russische Wurzeln.



Original article on the SonntagsZeitung webpage.