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"Estland ist der Welt etliche Klicks voraus", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.05.2015

04.05.2015

Die Online-Verwaltung erleichtert den Bürgern das Leben. Das baltische Land ist Vorreiter einer digitalen Gesellschaft in Europa. Von Kerstin Schwenn.


TALLINN, 3. Mai. Der Blick auf Tallinns Fassaden täuscht: Das Mittelalter ist in Estland lange vorbei. Hier am nordöstlichen Rand der Europäischen Union hat die Zukunft begonnen. Die Digitalisierung ist in Estland weiter fortgeschritten als anderswo in der Welt. Im Werbeslogan heißt es "fresh air, free WiFi": An nahezu jeder Ecke des kleinen Landes, das zur Hälfte aus Wald besteht, können die 1,3 Millionen Bewohner und ihre Besucher online sein. Das heißt nicht, dass die Menschen pausenlos auf ihr Handy starren, chatten oder googeln. Aber kein Este kommt im Alltag mehr um das Internet herum. Ob er ein Parkticket bezahlt, seine Steuererklärung abgibt, eine Angelgenehmigung beantragt oder ein Arztrezept in der Apotheke vorlegt: Papier wird dabei nicht mehr ausgetauscht, alles ist eine Frage von Klicks. Schlüssel dazu ist ein Ausweis mit eingebautem Chip.

Die Zahlen, die Siret Schutting, Direktorin vom "E-Estonia Showroom", präsentiert, beeindrucken: 95 Prozent der Esten erledigen ihre Steuererklärung elektronisch, 98 Prozent nutzen die Gesundheitsdatenbank, auf der Befunde gesammelt werden und Ärzte Rezepte ausstellen, 99 Prozent führen ihre Bankgeschäfte online und immerhin 33 Prozent geben ihre Stimme bei Wahlen online ab. "Wir sind eine digitale Gesellschaft", sagt Schutting. "Am Anfang waren die Leute ängstlich, aber jetzt ist das alles Alltag." Der junge Ministerpräsident des Landes, Taavi Roivas, reckt sein Smartphone in die Höhe: "Das ist mein Büro", erklärt er. "Es gibt keine Aktenstapel mehr, und ich unterzeichne jedes Gesetz mit der elektronischen Signatur." Was den Bürgern im Umgang mit ihrer Verwaltung enorme Erleichterung bringt, spiegelt sich in harten Wirtschaftszahlen wider: "Wir haben ausgerechnet, dass die effizientere Verwaltung jedem Bürger eine Woche Zeit im Jahr erspart", sagt Roivas. „Umgerechnet sind das zwei Prozent des Bruttosozialprodukts."

Das Fundament für E-Estland wurde vor rund 25 Jahren gelegt, als sich das Baltikum unabhängig machte von der Sowjetunion. Die Legende besagt, damals habe sich die neue Regierung darum bemüht, Bürger und Verwaltung mit Telefonen zu versorgen. Die Stadtväter der finnischen Hauptstadt Helsinki, über das Wasser nur gut 80 Kilometer entfernt, hätten ihre ausrangierte Telefonanlage angeboten. Die Esten aber entschieden sich gegen das analoge Geschenk und leisteten sich ein hochmodernes Telefonsystem. Nur wenige Jahre später sagte der damalige Präsident Lennart Meri den Satz, der als Initialzündung gilt: "Estland ist im Internet." Seit 1999 arbeitet die Regierung papierlos, seit 2000 ist das „Grundrecht auf Internet" in der Verfassung verankert, alle Behörden und Schulen verfügen über Computer, jeder Erstklässler lernt programmieren. Erfolge sind sichtbar: Die Software Skype, die kostenloses Telefonieren über das Internet erlaubt, ist 2003 von drei Esten entwickelt worden; inzwischen gehört das Unternehmen zu Microsoft. Regierungschef Roivas ist auf derselben Linie wie Schutting, die sagt: "Exportieren wollen wir nicht einzelne Programme, sondern die Geisteshaltung. Wir sind ein kleines Land, wir werden nicht die nächste Concorde bauen, aber wir wollen sie designen und die Ingenieure dafür ausbilden."

Spürbar beeinflusst war die digitale Entwicklung durch die Exil-Esten, die nach dem Ende der kommunistischen Besatzung aus Amerika, Kanada oder Schweden in ihre Heimat zurückkehrten. Einer der bekanntesten ist Toomas Hendrik Ilves, Psychologe aus New Jersey, Journalist, schließlich Diplomat und seit 2006 estnischer Staatspräsident. "In Sachen Digitalisierung sind wir Deutschland voraus", sagt er. "Aber das ist kein Wettlauf zwischen Estland und Deutschland. Hier geht es um die Wettbewerbsfähigkeit Europas im Vergleich zu Amerika." In den Vereinigten Staaten gebe es deutlich bessere Bedingungen für Technologie-Start-ups als in der EU. "Europa soll ein Binnenmarkt sein, aber technologisch haben wir weiterhin 28 Märkte. Wenn wir den Wettbewerb gegen Google, Facebook und andere nicht verlieren wollen, müssen wir aufwachen." Der Zufall will es, dass in der Brüsseler EU-Kommission ein Deutscher und ein Este die Digitalisierung voranbringen sollen: der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger und der ehemalige estnische Ministerpräsident Andrus Ansip.

Die jüngste Idee in Estland ist die "E-Residency". Seit Oktober kann jeder Nicht-Este E-Resident werden und von der bürokratiearmen Verwaltung profitieren – und beispielsweise aus jeder Ecke der Welt mit dem Smartphone Verträge in Estland unterschreiben. Auf 10 Millionen solcher Neubürger hofft die Regierung bis 2025. Durch die virtuelle Tür zum EU-Bürger mit allen Freiheiten zu werden, ist allerdings mit der E-Residenz nicht verbunden. Sie soll Investoren ins Land locken, die sich recht selten hierher verirren. Dabei, so sagen Roivas und Ilves, sei das Steuerrecht einfach und der Staatshaushalt noch besser in Schuss als in Deutschland. Die Randlage sei aber ein Nachteil.

Politiker- und Wirtschaftsdelegationen aus dem Ausland werden durch den E-Estonia-Showroom geschleust. Besucher sind von dem Modell beeindruckt – und gleichwohl skeptisch. Gerade die Deutschen fragten sofort nach dem Datenschutz, erzählt Direktorin Schutting. Staatspräsident Ilves, der viele Jahre in München lebte, kennt die Mentalität der Deutschen und ihre Angst vor dem "gläsernen Bürger". Verstehen kann er sie nicht. "Die Erfahrung mit Gestapo und Stasi kann doch kein Grund sein, heute nicht mit frischem Blick auf die IT zu gucken", sagt er. Die Esten hätten doch mindestens so viel Grund zu Misstrauen, schließlich habe hier der Geheimdienst KGB geherrscht. Doch sie vertrauten ihrem neuen Staat. Dass in Deutschland der Datenschutz nur vorgeschoben sein könnte, um das Unbekannte abzuwehren, hält Ilves angesichts des Wahlverhaltens für wahrscheinlich: "Warum sollte es sicherer sein, Papier in einen bunten Umschlag zu stecken, auf denen als Adressat das Wahlamt vermerkt ist? Trotzdem tun es mehr als 20 Prozent der Deutschen." Die Esten wissen, wie verletzlich ihre elektronischen Systeme sind. Deshalb widmet die Regierung dem Schutz vor Cyberkriminalität viel Aufmerksamkeit, besonders intensiv seit einem schweren Hacker-Angriff 2007, der Banken-, Behörden- und Nachrichtenportale vorübergehend lahmlegte. Die Expertise ist da: Nicht von ungefähr hat die EU in Tallinn ihre IT-Agentur angesiedelt, die die Systeme für einen sicheren Datenaustausch koordiniert, und die Nato das Cyber Defence Centre of Excellence, das Forschungszentrum, das seit 2008 die Cyberabwehr verbessern hilft.