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""Wir sind keine dumpfen Ost-Untermenschen"", Die Welt

„Die nach dem Kalten Krieg gefundene Weltordnung ist zerstört“, sagt Estlands Staatschef Toomas Hendrik Ilves
© Reuters

14.01.2015

Von Stefanie Bolzen, Korrespondentin


Estlands Staatschef Toomas Hendrik Ilves warnt, die Bedrohung durch Putin zu ignorieren. Und fragt, ob deutsche Russland-Versteher immer noch Empathie einfordern, wenn Russland die Balten angreift.


Russland rüstet an der Nato-Grenze auf. Generalstabschef Waleri Gerassimow kündigte am Dienstag in Moskau an, "unsere Kampfeinheiten entsprechend unserer militärischen Planung aufzustocken". Besondere Aufmerksamkeit komme dabei der an Polen und Litauen grenzenden Exklave Kaliningrad zu. Die Lage in der Ostsee-Region ist seit Beginn der Ukraine-Krise angespannt, weil Moskau seine See- und Luftmanöver massiv verstärkt hat. Die Nato patrouilliert seither den Luftraum, die Bundeswehr hatte bis Jahresende das Kommando in Estland, dessen Präsident eine noch viel stärkere Nato-Präsenz fordert. Mit Toomas Hendrik Ilves, Sozialdemokrat und seit 2006 Staatschef, sprach Stefanie Bolzen.


Die Welt: Haben die Esten Grund zur Angst?

Toomas Hendrik Ilves: Wenn man in der EU und der Nato ist, gibt es keinen Grund zur Furcht. Wir durchleben eine Situation wie in Westdeutschland vor 1989, die Gefahr ist da, man beobachtet schlechtes Benehmen, aber man lebt damit. Man macht sogar Witze.


Die Welt: Im Nato-Hauptquartier in Brüssel und anderswo in europäischen Hauptstädten sagen manche, die Balten seien hysterisch.

Ilves: Das ist typisch für Leute, die nicht hinsehen wollen, was eigentlich passiert ist. Die nach dem Kalten Krieg gefundene Weltordnung ist zerstört. Die UN-Charta, die Helsinki-Akte wurden gebrochen, die Paris-Charta von 1990 – die besagt, dass jedes Land seine eigenen Entscheidungen treffen kann, was seine nationale Sicherheit angeht. Moskau hat das selbst unterschrieben. Dass die Georgier Richtung Nato wollten, war 2008 für Russland Grund genug für einen Krieg. Dieses Mal ist der Grund so etwas Kleines wie ein Assoziierungsabkommen mit der EU.


Die Welt: Ist das tatsächlich so klein?

Ilves: Ich bin wirklich erstaunt, dass Meinungsschreiber und andere in französischen und deutschen Medien in einem Assoziierungsabkommen die Schuld suchen. Das ist kaum mehr als ein Freihandelsabkommen und ein Studentenaustausch. Das ist kein großer Deal. Aber die Putin-Versteher werfen der EU vor, dass das ein Fehler war. Dass man Russlands Ängste besser verstehen müsse. Ich sage Ihnen etwas: Der 8. Mai 1945 war die definitive Antwort darauf, andere Territorien wegen der dort lebenden Minderheit zu annektieren. Deutsche, die jetzt Verständnis für Russland fordern – das ist für mich ein Denken von Blut und Boden.


Die Welt: Fühlen Sie sich als Außenseiter im westlichen Bündnis?

Ilves: Nein, vielmehr fühlen wir uns bestätigt. 20 Jahre lang hat man den Osteuropäern erzählt, beruhigt euch, Russland ist ein ganz normales Land. Und jetzt sehen wir, dass wir recht hatten. Vor wenigen Tagen haben wir erstmals strategische Bomber der russischen Luftwaffe über der Ostsee gesehen. Und da sagen die Leute, wir seien paranoid. Länder, die das sagen, sollten lieber auf ihr hohes Defizit achten und ihre überzogenen Lohnkosten.


Die Welt: Die große Zahl der Manöver über der Ostsee, die Entführung eines estnischen Grenzbeamten – was plant Putin?

Ilves: Wir sollten dahinter nicht zu viel Plan vermuten. "Wir sind groß, wir sind stark", das steckt dahinter. Diesmal aber hat sich Russland verkalkuliert, die Folgen seines Handelns sind viel größer als erwartet, sie dachten, das vergeht alles schnell wie damals in Georgien.


Die Welt: Im Fall Ukraine wird das also nicht passieren?

Ilves: Russland zählt auf manche Leute, die die Sanktionen weghaben wollen, um zum Alltagsgeschäft zurückzukehren. Wenn wir aber die Sanktionen zurückdrehen, dann akzeptieren wir die Dinge, wie sie sind. Glücklicherweise hat wenigstens die Regierung in Berlin realisiert, dass es hier um den Umsturz dessen geht, was 70 Jahre Grundlage internationaler Beziehungen und der europäischen Sicherheitsarchitektur war.


Die Welt: Sehen Sie eine veränderte Denkweise in Deutschland?

Ilves: Ich fühle mich bereits seit der Rede von Präsident Gauck in München (bei der Sicherheitskonferenz 2014, d. Red.) viel besser. Denn zuvor hatte ich langsam den Eindruck gehabt, dass Deutschland immer eine Ausrede fand, um etwas nicht zu tun: den Zweiten Weltkrieg, die Gestapo, die Stasi.


Die Welt: Wie sieht das akute Bedrohungsszenario aus?

Ilves: Ich mache mir keine Sorgen, dass Russland jetzt etwas tut. Sondern dass wir die Realität nicht erkennen. Verträge, die gebrochen worden sind. Aber wir reagieren gar nicht, denn das ist ja unangenehm. Für Länder wie meines, für kleine Länder, sind Regeln aber sehr wichtig. Sonst tun die Starken, was immer ihnen passt.


Die Welt: Putin argumentiert, Russland werde vom Westen bedroht.

Ilves: Russland wird bedroht? Also beschuldigen wir jetzt die Opfer, die Ukrainer? Wie auch immer, wenn wir überfallen und in Massen abgeschlachtet werden, gibt es bestimmt ein paar Leute in Deutschland, die für mehr Empathie mit Russland plädieren.


Die Welt: Was braucht Estland, damit das nicht passiert?

Ilves: Wir geben jedes Jahr zwei Prozent unseres Haushalts für Verteidigung aus, wir haben noch die Wehrpflicht, und sie ist sehr populär. Als die Sowjets 1968 in Prag einmarschiert sind, da hat die westdeutsche Regierung alles darangesetzt, den geplanten Abzug der alliierten Truppen zu verlangsamen. Wir sind jetzt ein Land an der Frontlinie, so, wie Westdeutschland es einmal war. Wo noch heute 45.000 US-Soldaten stationiert sind. In Estland sind es derzeit gerade einmal 150.


Die Welt: Seit der Ukraine-Krise sichert die Nato das Baltikum zusätzlich ab. Aber die Allianz will nicht an die Nato-Russland-Gründungsakte rühren, die eine permanente Stationierung von Truppen an den Grenzen zu Russland ausschließt.

Ilves: Ja, das Wort "permanent" steht darin. Aber genauso auch der Begriff "gegenwärtiges Sicherheitsumfeld". 1997, als der Vertrag mit Boris Jelzin geschlossen wurde, da konnte Russlands Luftwaffe nicht mal abheben, die hatten gar kein Kerosin. Das war ein ganz anderes Sicherheitsumfeld. Jetzt von anderen Nato-Staaten gesagt zu bekommen, da habe sich nichts geändert, das stellt unsere Garantien als Mitglied in ein zweifelhaftes Licht.


Die Welt: Warum ändern Ihre Nato-Partner ihre Meinung nicht?

Ilves: Das ist für mich nicht zu verstehen. Wenn ich diese Frage mit hohen Offiziellen anspreche, dann gehen sie weg.


Die Welt: Warum?

Ilves: Weil es für sie peinlich ist. Weil es eine intellektuell überzeugende Antwort nicht gibt. Aber wir sind keine dumpfen kleinen Ost-Untermenschen. Diese herablassende Haltung uns Esten gegenüber ist abstoßend.


Original article on Die Welt webpage.