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"Die Euro-Stars aus Tallinn", die Süddeutsche Zeitung

15.07.2011

Matthias Kolb

 

Europa droht in Schulden zu ersticken, ein Land nach dem nächsten gerät ins Visier der Ratingagenturen. Doch es gibt auch Musterschüler wie Estland. Die Euro-Stars aus Tallinn haben kaum Schulden und bekommen beste Bewertungen. Profilieren wollen sich die Balten vor allem als Elektronikstandort - eine Internetrevolution hat das Land schon hervorgebracht.

Toomas Hendrik Ilves liebt Vergleiche. In den Augen des estnischen Präsidenten befindet sich sein Land in einer ähnlichen Position wie ein Hochschulabsolvent: "Es fühlt sich toll an, keine Prüfungen mehr ablegen zu müssen, doch man fragt sich, wie es im Leben weitergeht."

Im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung spielt Ilves auf den 1. Januar 2011 an: Als 17. Land führte Estland den Euro ein, was nicht nur an der Ostsee als Ritterschlag gesehen wird. Den Beitritt zu EU und Nato hatte die einstige Sowjetrepublik schon 2004 vollzogen.

Stolz erwähnt der Präsident, dass derzeit neben Estland nur Luxemburg die Maastricht-Kriterien erfüllt, die ein jährliches Defizit von höchstens drei Prozent der Wirtschaftsleistung erlauben. Europa erlebe tiefgreifende Veränderungen, diagnostiziert der 57-Jährige, der einst für Radio Free Europe gearbeitet hat: Die Aufteilung in Ost und West sei überholt, die Achse habe sich um 90 Grad gedreht: "Die Trennlinie verläuft heute zwischen Nord und Süd."

Ilves lässt keinen Zweifel daran, dass Tallinn Rettungspakete für verschuldete Euro-Staaten mittragen werde - auch wenn die Mehrheit der 1,4 Millionen Esten dies in Umfragen ablehnt. Die Elite des Landes setzt auf Europa und sieht sich dabei wirtschaftlich an der Seite von Deutschland, den Niederlanden und den skandinavischen Staaten.

Im ersten Quartal 2011 verzeichnete Estland mit 8,5 Prozent das höchste Wachstum aller EU-Staaten; auch die 4,4 Prozent für das Jahr 2010 waren dreimal so viel wie der Euro-Staaten-Durchschnitt. Die Gesamtstaatsverschuldung liegt weiterhin bei sagenhaften 6,6 Prozent - Deutschland beispielsweise wird im laufenden Jahr auf 80 Prozent kommen. Die Arbeitslosenquote ist 2010 nirgendwo in der Euro-Zone so stark gesunken wie in Estland.

Der estnische Erfolg ist auch im Baltikum eine Ausnahmeerscheinung: Den Nachbarn Lettland bewahrte nur ein Milliardenkredit der EU und des Internationalen Währungsfonds vor der Pleite. Estland profitiert von einer weitsichtigen Fiskalpolitik, die von keiner Partei in Frage gestellt wurde: In den Boomjahren zwischen 2000 und 2007 erreichten die Wachstumsraten zweistellige Werte. Die Überschüsse wurden in einen Stabilisierungsfonds eingezahlt, der ein Neuntel des Bruttoinlandsprodukts beträgt.

Da der Bankensektor von skandinavischen Instituten kontrolliert wird, musste die Regierung kein Geldhaus retten. Trotzdem schwenkte Premierminister Andrus Ansip nach der Wirtschaftskrise auf einen strikten Sparkurs ein, erhöhte Steuern, kürzte Beamtengehälter um ein Zehntel. Das war politisch umstritten, die Regierung setzte sich aber durch. Jetzt fährt sie den Lohn ein: Den "außergewöhnlich starken Zustand" der öffentlichen Finanzen nannte die Ratingagentur Fitch als wichtigen Grund für die Anhebung der Kreditwürdigkeit auf "A+".

Profilierung als "E-stonia"

Die Baltenrepublik profiliert sich als "E-stonia", wo der Internet-Telefondienst Skype erfunden wurde. Bereits 1997 wurden in der Aktion "Tigersprung" alle Schulen ans Internet angeschlossen und eine schlanke Verwaltung aufgebaut. Heute werden 93 Prozent aller Steuererklärungen online abgegeben und Bustickets ebenso wie Parkscheine per Mobiltelefon bezahlt. Die Verfassung garantiert den Zugang zum World Wide Web.

Der Musterschüler lockt ausländische Investoren an: "Im ersten Vierteljahr flossen 427 Millionen Euro nach Estland", sagt Marija Alajoe von Enterprise Estonia, noch mehr als im Vorjahr. Mehrere Firmen bauten ihr Engagement aus: Ericsson produziert Mobiltelefone für den Weltmarkt und ABB beschäftigt mehr als 1000 Esten. Es boomt auch der Tourismus, in dem ein Zehntel des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet wird.

Präsident Ilves will sich nicht auf alten Erfolgen ausruhen: Anfang Juli diskutierte er mit Investoren, Politikern und Journalisten über Estlands künftige Rolle in der Welt. Während einige auf die Finanzbranche setzen wollen, sehen andere Estlands Zukunft als Logistikdrehscheibe für den Handel mit China.

Ilves ist überzeugt, dass sich die weichen Standortfaktoren verbessern müssen. Zwar könne Skype für sein Forschungszentrum Spitzenpersonal von Nokia abwerben und adäquate Gehälter zahlen: "Die Entwickler möchten meist nicht hier leben, weil die Lebensqualität nicht hoch genug ist."

Die deutschen Unternehmen aber sind zufrieden: Laut einer Umfrage der Deutsch-Baltischen Handelskammer würden 93 Prozent wieder den Standort Estland wählen. Sie profitieren von einem einfachen Steuerrecht: Es gilt ein Einheitssatz von 21 Prozent. Wenn die Gewinne reinvestiert werden, fällt keine Körperschaftssteuer an.

"In der Vergangenheit war dies ein wichtiger Erfolgsfaktor", urteilt Stephan Kuhn von Ernst & Young. Der Schweizer Steuerexperte rät, Estland müsse womöglich sein Steuersystem ändern, um es zukunftstauglich zu machen. Kuhn fürchtet, dass nach dem Boom der Konsum abgewürgt wird: "21 Prozent Einkommen-Steuersatz ist für ärmere Bürger eine recht hohe Belastung, zu der noch 20 Prozent Mehrwertsteuer kommen." Mit höheren Freibeträgen ließe sich gegensteuern.

In einer anderen Frage lobt der Unternehmensberater die Baltenrepublik: "Im regionalen Vergleich ist es Estland am besten gelungen, ein positives Image aufzubauen." Dies wird Toomas Hendrik Ilves gern hören, der die Fortschritte seines Landes gern mit einem anderen Vergleich illustriert: "1939 waren Estland und Finnland nahezu gleich auf, was Wohlstand und Infrastruktur angeht." Dann wurde Estland von der Sowjetunion besetzt - und 1991, im Jahr der Unabhängigkeit, war jeder Finne 20-mal reicher als sein estnischer Nachbar. 2009 kamen sie bereits auf ein knappes Drittel des finnischen Einkommens.

Und die Aufholjagd geht weiter.

 

Original article on sueddeutsche.de